- Teil 1: Die Angemessenheit von Komplexität
- Teil 2: Der Foerster und die Softwarearchitektur
- Teil 3: Mythos Teamautonomie
- Teil 4: Autonomie und Entscheidungen
- Teil 5: Ich, Du und Conway’s Law (Dieser Artikel)
- Teil 6: Conway hat immer Recht
- Teil 7: Illegale Softwarearchitekturen
- Teil 8: Paradoxical Safety
- Teil 9: New Work: Taylorismus 2.0
Mit der Verbreitung von Microservices erlebte Conway’s Law ein Revival und kam aus dem Tal der vergessenen Theorien zurück ins Licht der Softwarearchitektur. Zyniker meinen, dass es kaum einen zweiten Artikel in der Geschichte des Software Engineerings gibt, der so häufig zitiert wird, obwohl er so selten gelesen wurde. Und tatsächlich kursieren um Conway’s Law jede Menge äußerst fragwürdiger Ideen. Häufig werden diese Ideen aber als plausibel akzeptiert, ja teilweise als großartige Konzepte betrachtet, obwohl sie theoretisch wie praktisch nur eine Folge des weit verbreiteten EKSSL-Fehlers (ausgesprochen: Excel-Fehler, Abk. für „Es Klingt So Schön Logisch“) sind.
Um Conway’s Law aus Sicht der Organisationstheorie zu betrachten, sollte zunächst der Begriff des Systems geklärt werden. Dieser Begriff wird in Conways Artikel mehrfach verwendet, ohne jedoch definiert zu sein. In dieser Kolumne soll ein Systembegriff definiert werden, der auf den Soziologen Niklas Luhmann zurückgeht und für eine Betrachtung von Conway’s Law passend ist.
Ein Ich
Um das Konzept eines Systems zu erklären, ist es hilfreich von einem Ich auszugehen (Abb. 1).
Dieses Ich muss nicht notwendigerweise ein Mensch sein, aber es fällt sicherlich leichter sich einen Mensch darunter vorzustellen. Dieses Ich existiert in einer Umwelt (Abb. 2), in der andere Menschen herumwuseln, aber auch Pflanzen, Autos, Häuser, die Bundesregierung und Schiffe, die im Suez-Kanal querliegen.
Mit anderen Worten: zur Umwelt dieses Ichs gehört alles, was nicht Teil dieses Ich ist.
Diese Betrachtung erlaubt es nun, eine erste Idee eines Systems zu formulieren: das Ich ist ein System. In Abb. 3 wird das durch den Kreis verdeutlicht, der um das Ich herumgezogen ist.
Alles, was außerhalb des Kreises ist, ist die Umwelt, alles innerhalb des Kreises ist das System.
Neben dem Ich kann es aber auch noch weitere Systeme geben. Beispielsweise ist es denkbar, dass es ein Du gibt (Abb. 4).
Das Du ist aus der Perspektive des Systems Ich Teil seiner Umwelt, umgekehrt ist das Ich aus der Perspektive des Systems Du Teil von dessen Umwelt. Spannend wird es, wenn klar wird, dass das Du von der Idee ein System zu sein, gar nichts wissen muss. Die Betrachtung des Ich als System ist nämlich nur ein Konzept, das im Kopf des Ich existiert. Das Du hat von dem Konzept eines Systems überhaupt keine Vorstellung (Abb. 5).
Das macht die Idee der Betrachtung von Menschen und Organisationen als Systeme so genial: Das Konzept zur Beschreibung als System funktioniert, auch wenn die Menschen, die so beschrieben werden, nichts davon wissen, dass dieses Konzept überhaupt existiert.
Du und Ich
Der nächste Schritt führt zur Betrachtung menschlicher Gemeinschaften. Das können Unternehmen sein, ganze Gesellschaften oder auch Familien - kurz: Organisationen. Auf eine solche Organisation, beispielsweise eine die aus einem Ich und einem Du besteht (Abb. 6), lässt sich nun das gleiche Modell anwenden wie auf das Ich.
Sie existiert in einer Umwelt und kann durch eine Grenze von dieser unterschieden werden - die Organisation kann als System beschrieben werden (Abb. 7).
Die Tatsache, dass das Ich und das Du eine Organisation bilden, ist eine Tatsache, die nur in den Köpfen des Ich und des Du bekannt ist, weil nur Sie Teil der Organisation sind. Alle Menschen außerhalb der Organisation sind Nichtmitglieder (Abb. 8).
Der Fakt, dass die Nichtmitglieder nicht zu dieser Organisation gehören, ist aber etwas dass nur den Mitgliedern der Organisation bekannt ist (Abb. 9).
So seltsam es klingen mag, aber die Leser:innen dieser Kolumne werden nie wissen können, in welchen Organisationen sie alles nicht Mitglied sind.
Organisationen als Systeme
Es ist also, folgt man Niklas Luhmann, möglich, von Menschen gebildete Organisationen, als Systeme zu betrachten, genauer gesagt: soziale Systeme. Luhmann geht sogar noch einen Schritt weiter und kommt zu dem Schluss, dass die Menschen für die Existenz dieser sozialen Systeme gar nicht relevant sind. Seine Theorie besagt, dass soziale Systeme aus Kommunikation bestehen und die Menschen darin austauschbar sind. Die praktische Konsequenz davon ist, dass Organisationen weiterbestehen können, wenn Menschen sie verlassen und neue Menschen Mitglieder dieser Organisationen werden. Weil das so ist, können Unternehmen über Generationen hinweg bestehen, obwohl die Gründer:innen schon lange gestorben sind.
Spannend dabei ist, dass Niklas Luhmann für seine Theorie ein Konzept von zwei Kognitionswissenschaftler adaptierte: Er wandte die Gesetzmäßigkeiten der von Humberto Maturana und Fancisco Varela beschriebenene Autopoiesis auf soziale Systeme an. Die Arbeiten von Maturana und Varela beschäftigten sich mit der Entwicklung biologischer Systeme und der Frage, wie sich Leben erhält langfristig erhält. Autopoiesis ist in diesem Modell die Fähigkeit eines lebenden Systems, sich selbst zu erschaffen und zu erhalten. Mit Luhmanns Adaption waren die beiden nicht ganz einverstanden, was aber der Genialität seiner Theorie keinen Abbruch tut. Diese Fähigkeit der Autopoiesis ist es, die Organisationen dazu befähigt, Maßnahmen zu treffen, um sich selbst zu erhalten - im einfachsten Fall: Stellen auszuschreiben und mit neuen Mitgliedern zu besetzen.
Wenn Conway das gewusst hätte…
Die Aussage, die häufig als Conway’s Law zitiert wird, und die im Original wie folgt lautet:
The basic thesis of this article is that organizations which design systems (in the broad sense used here) are constrained to produce designs which are copies of the communication structures of these organizations.
kann aus der Perspektive der Systemtheorie von Organisationen also wie folgt gelesen werden:
Soziale Systeme - also Systeme die aus Kommunikation bestehen - die Systeme designen, reproduzieren aufgrund der Gesetzmäßigkeit der Autopoiesis immer sich selbst.
Die These, die Conway formulierte, ist also die Vorwegname eines Konzepts, das auf eine Idee von zwei Kognitionswissenschaftlern zurückgeht und von einem Soziologen gut 20 Jahre später am Schreibtisch beschrieben wurde.
Was Autopoiesis und die Tatsache, dass Systeme nur aus Kommunikation bestehen, als praktische Konsequenzen für Conway’s Law hat, wird in der nächsten Kolumne betrachtet.
Literatur
- Conway, Melvin: How do committees invent; Datamation (1968) 28–31
- Simon, Fritz B.: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus; Carl Auer Verlag, 2006
- Maturana, Humberto und Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens; Fischer Taschenbuch Verlag, 2009
- Luhman, Niklas: Einführung in Systemtheorie; Carl Auer Verlag, 2004
- Luhman, Niklas: Soziale Systeme; Suhrkamp Verlag, 1987