Ähnlichkeiten zu konkreten IT-Systemen und Softwareprojekten wären zufällig, Analogien zu unserer Branche jedoch beabsichtigt

Du stehst in der Küche

…und schneidest Gemüse, da reißt Dein Telefons Dich unsanft aus Deinen Träumen an den baldigen Urlaub.
Schon am groovigen Klingelton erkennst Du, daß Deine Lieblingstante anruft. Lucy ist fast eine zweite Mutter für Dich, die Schwester einer Cousine des Onkels – aber egal. Ihr Erdbeer-Schoko-Kuchen mit Mascarponecreme gehört zu Deinen Lieblingsgerichten, und mit Lucy lässt sich großartig über alles Mögliche plaudern. Meist meldet sie sich alle paar Wochen, um von ihren aktuellen Projekten zu erzählen, die fast nichts mit Informatik zu tun haben.

Diesmal aber gibt es keine Neuigkeiten, sondern Lucy hat eine konkrete Bitte an Dich: Du müsstest am Wochenende kurz vorbeikommen und ein Paket zu Onkel Theo bringen.

  • Funktionale Anforderung: Paket von Lucy zu Theo bringen.

Du bist ein bisschen überrascht über diese Bitte – aber für Lucy würdest Du ja fast alles tun, darum sagst Du sofort zu. Ach ja, in einem Nebensatz meint Lucy, dass besagtes Paket nicht nass werden dürfe. Sie erwähne das, weil Du normalerweise mit dem Fahrrad fährst, und Dir mit Deiner Kurzhaarfrisur ein kleiner Regenschauer ja nichts ausmache – aber diesmal solltest Du eben drauf achten..

Jemand fährt Fahrrad und streckt die Beine von sich
Jemand fährt Fahrrad und streckt die Beine von sich

Lucy beendet das Telefonat ungewohnt schnell, weil sie noch ein paar Freundinnen erwartet.
Du überlegst, wie Du am Wochenende diesen kleinen Fahrdienst organisieren wirst:

Dein Rucksack, den Du gewöhnlich beim Radfahren verwendest, besteht aus Baumwolle, und ist kein Stück wasserfest. Du könntest natürlich einen Schirm nehmen, aber dann musst Du ja einhändig radfahren – was in der von Autoverkehr überfüllten Stadt einem Kamikaze-Einsatz gleichkommt. Keine gute Idee also.

Bleibt Deine Regenjacke. Die hast Du im Winter zuletzt getragen, und für den Sommer wieder irgendwo in die Tiefen des Kleiderschrankes verbannt. Jetzt, wo Du über dieses alte Ding nachdenkst - vermutlich ist die gar nicht mehr so wasserdicht, wie der Name verheißt… die hast Du doch damals günstig von diesem fliegenden Händler gekauft, der später wegen Betrugs in der Zeitung stand. Naja, die leuchtend rote Farbe der Jacke hat immerhin ein paar Jahre gehalten.

Eine Person mit roter Jacke streift durch ein Schilffeld
Eine Person mit roter Jacke streift durch ein Schilffeld

Vielleicht könntest Du für Tante Lucys Aufgabe mal in die Tasche greifen und eine neue, wirklich wasserdichte Jacke kaufen. Oder vielleicht lieber einen wasserdichten Rucksack?

  • Einfache Lösungen können funktionieren, haben manchmal Nachteile („nicht wasserdicht“).

Während dieser Abwägungen fällt Dir ein, dass Du Tante Lucys Paket ja auch ganz anders trocken halten könntest: Du reißt den Küchenschrank neben Dir auf, und Dein Blick fällt auf Deine imposante Sammlung von Tiefkühlboxen. Einige davon haben einen Klickverschluss, die sind doch bestimmt wasserfest?

Naja, probieren ist besser als glauben, also nimmst Du kurzerhand eine Deiner Dosen, füllst sie mit Wasser, schließt den Deckel und schaust ob Wasser rausläuft. Im ersten Moment siehts aussen noch trocken aus, aber sobald Du ein bisschen auf der Dose herum drückst, zeigen sich erste Tropfen. Hhm - nur diese Dose genügt vermutlich nicht.

Zwei gefüllte Tiefkühlboxen
Zwei gefüllte Tiefkühlboxen
  • Prototypen können helfen, Erfahrung mit einzelnen Lösungsansätzen zu sammeln.

Dir fällt ein, dass Du ja die Kunststoffbox mit der Regenjacke kombinieren könntest. Das ist zwar etwas umständlicher, weil Du die Box irgendwie unter die Regenjacke frickeln musst. Dafür hat die Kombination sicherlich eine höhere Schutzwirkung.

  • Kombinierte Lösungsansätze sind aufwändiger und haben manchmal ihre eigenen Nachteile.

Aber mal kurz einen Schritt zurück. Was Tante Lucy wohl genau gemeint hat mit der Aussage „darf nicht nass werden“? Verträgt ihr Paket überhaupt kein Wasser – also dürfen ein paar Tropfen Wasser das Paket berühren, oder würden schon geringe Mengen dem Paket schaden?

Du versuchst Lucy zu erreichen, um das zu klären. Dein Anruf landet leider auf Lucys Anrufbeantworter. Irgendwie komisch, sie selbst ruft zwar an, aber nimmt praktisch niemals ihr Telefon ab. Dafür gibt’s ja asynchrone Kommunikation – Lucy bevorzugt Signal. Du setzt Dich also an Deinen Laptop, startest Signal und fragst Lucy, was sie genau mit „darf nicht nass werden“ gemeint habe.

  • Bei Stakeholdern nachfragen ist besser als raten.

Schon wenige Augenblicke später kommt ihre Antwort „Muss komplett trocken bleiben. ll“.

Ihre Auskunft hilft Dir nicht wirklich weiter, weil Du den benötigten Grad der Wasserfestigkeit immer noch nicht kennst. Das „ll“ steht für „Love, Lucy“, für den Rest fragst Du Ecosia um Rat: Diese ökologische Suchmaschine leitet Dich auf einen umfassenden Wikipedia-Eintrag, der Dir das Thema „Wasserfest“ nahe bringt. In Deiner typischen Neugier schnappst Du Dir eine Tasse Tee und beginnst zu lesen.

Schwappendes Wasser
Schwappendes Wasser

Die Unterscheidung spritzwasserdicht, wasserdicht und wassergeschützt verwirren Dich zuerst, aber dann konzentrierst Du Dich wieder auf Dein Ziel – nämlich Tante Lucys Paket vor Feuchtigkeit zu schützen. Wikipedia erklärt Dir den internationalen Standard IP (ingress protection, Eindringschutz)

  • (Sehr) konkrete Anforderungen helfen dabei, Lösungsansätze auszuwählen.

Du denkst an den phänomenalen Erdbeer-Schoko-Kuchen, Dir läuft das Wasser im Mund zusammen, und Du beschließt für Deine Tante die perfekte Schutz-Box zu kaufen. Dabei zeigt sich mal wieder das klassische Problem: Je höher der Schutzgrad, desto höher der Preis: Einen IP-67 Koffer bekommst Du in schickem leuchtend-Gelb für knappe 40 Euro, IP-68 macht Dich schon um fast 100 Euro ärmer.

  • Der Standard-Kompromiss bei Entscheidungen: Für mehr Geld gibt’s in der Regel auch mehr Leistung.

Du könntest eine IP-67 Box mit Deinem Rucksack kombinieren. Wenn Du die Regenjacke eine Nummer größer kaufst, kannst Du den Rucksack darunter tragen, und die Box noch in den Rucksack stecken. Oder Du kaufst direkt die teure, aber dichtere IP-68 Box. Allerdings ist die unhandlich und Du kannst Sie vielleicht nicht mehr so gut auf dem Fahrrad transportieren.

  • Kompromisse sind Abwägungen: Manche Dinge werden besser (Wasserdichte bei IP-68 Box), andere schlechter oder schwieriger (hier: Verkehrssicherheit).

Ein erneutes „Ping“ Deines Signal-Clients zeigt eine neue Nachricht, schon wieder von Lucy: „denk dran wertvoll, afk ll“. Vor lauter Wasserfestigkeit hattest Du diesen Teil der Anforderungen fast vergessen.

Ein Armband mit blauen und weißen Edelsteinen
Ein Armband mit blauen und weißen Edelsteinen

Ah ja, „away from keyboard“. Lucy ist also für weitere Nachfragen nicht mehr erreichbar. Jetzt musst Du also Annahmen treffen. Wenn Deine beruflich erfolgreiche Tante von „wertvoll“ spricht, muss es wirklich wertvoll sein. Ob Dir jemand das Paket stehlen möchte? In Deinem Bekanntenkreis gilst Du als vorsichtig und risikobewusst – das kommt jetzt zum Vorschein:

Vielleicht solltest Du lieber mit dem Auto fahren – da kann Dir zumindest niemand die Kiste oder den Rucksack während der Fahrt aus der Hand oder vom Gepäckträger reissen? Kurz erwägst Du die Anschaffung stabiler Handschellen, um das wertvolle Paket beim Transport an Dein Handgelenk zu ketten – aber die lassen sich an der wasserfesten IP-68 Box vermutlich nicht sicher befestigen – und beim Rucksack scheitern die ebenfalls: Wenn Du Deine Hand an den Rucksack kettest, kannst Du nicht mehr radfahren.

  • Manche Lösungsansätze widersprechen einander (sind nicht kompatibel miteinander).
Zwei Handgelenke in Handschellen
Zwei Handgelenke in Handschellen

Du beschließt, für diese Tour ausnahmsweise auf das Fahrrad zu verzichten, und trotz Deiner Umweltbedenken ausnahmsweise mit dem Auto zu fahren. Dann könntest Du die Handschellen an einen stabilen Aktenkoffer ketten, der wiederum Deine IP-68 Box enthält. Das wird unhandlich – und Du mit den Handschellen kannst Du auch nicht mehr selbst Auto fahren, sondern musst jemand anders fragen.

Ein Auto zu finden erweist sich aber als aufwändig: Dein Car-Sharing Anbieter stellt nämlich nur winzige Kleinwagen zur Verfügung, die erscheinen Dir jedoch nicht sicher genug für das wertvolle Paket. Du radelst kurz entschlossen zum örtlichen Autovermieter, um fürs Wochenende einen SUV zu mieten – das erscheint Dir passend zur Erfüllung der Sicherheitsanforderungen zu sein.

Ein Geländewagen vor einer kargen Landschaft kurz vor Sonnenuntergang
Ein Geländewagen vor einer kargen Landschaft kurz vor Sonnenuntergang

Der nette „Car Rental Representative“ fragt Dich, wozu Du den Wagen denn nutzen möchtest, weil sie mehrere Typen riesiger Geländewagen zur Verfügung haben. Als Du das „wertvolle Paket“ erwähnst, runzelt Dein Gegenüber die Stirn und erzählt Dir von dieser Netflix-Serie, in der sie die bekannten Schauspielerinnen grundsätzlich immer mit Begleitschutz transportieren. Und am Wochenende würden sie Dir zwei weitere SUVs mitsamt Fahrer:innen sogar für den halben Preis vermieten. Sie hätten da Erfahrung in Wert-Transporten, natürlich alle drei Fahrzeuge mit GPS-Tracking. Gegen einen kleinen Aufpreis sogar mit dem Bonuspaket von „aktivem Live-Monitoring“ und direkter Alarmschaltung zur lokalen Polizei.

Eine digitale Stadtkarte mit rotem Punkt, der einen Standort anzeigt
Eine digitale Stadtkarte mit rotem Punkt, der einen Standort anzeigt

Krass: eine Kolonne von drei Fahrzeugen. Ein Fahrzeug vor Dir und eines hinter Dir. Hört sich wirklich sicher an, insbesondere die Sache mit dem GPS-Tracking und live-Monitoring. Ist zwar nicht cool für die Umwelt, aber sicherlich perfekt für Tante Lucys Paket.

Ein kurzer Blick auf Deine Smartphone Banking App zeigt, dass Du nach der Aktion sogar noch ein paar Cent auf dem Konto hättest, also unterschreibst Du kurz entschlossen den Mietvertrag über drei mattschwarze, hoch motorisierte SUVs mit Leder-Interieur, inklusive Monitoring. Bleibt sogar noch Geld (und Zeit), um im Online Shop Deines Lieblings-Baumarktes eine ausreichend dimensionierte IP-68 Box zu kaufen. Ach ja – wie groß war das Paket noch gleich?

  • Schon wieder: Höhere Anforderungen bringen höhere Kosten mit sich.

Nun – Du bist Dir ganz sicher, die optimale Vorbereitung fürs Wochenende getroffen zu haben und genießt die Vorfreude auf Lucys großartigen Kuchen.

Wochenende – Variante 1

Lucy arbeitet als Sous-Chef in einem hochklassigen Restaurant. Onkel Theo hat wenig Talent fürs Kochen, aber großen Hunger. Also packt Lucy für ihn ein schönes Paket mit einer edlen Mahlzeit, die Theo zuhause nur noch auspacken muss.

Nachos mit Chili und Guacamole
Nachos mit Chili und Guacamole

Das sollte nicht nass werden, aber IP-68 ist definitiv übertrieben – ebenso wie drei SUVs. Hättest also eine Menge Geld und Hirnschmalz sparen können.

  • Manchmal sind Lösungen übertrieben, weil Teams oder Product-Owner implizit von zu hohen Anforderungen ausgehen.

Wochenende – Variante 2

In Lucys kleiner Wohnung türmen sich die Souvenirs, die sie von ihren vielen Reisen mitgebracht hat. Eines davon, ein südamerikanischer Totem-Pfahl, gibt Lucy nun ihrem lieben Bruder Theo, weil der vor seinem Haus perfekten Platz dafür besitzt. Das Prachtstück misst übrigens vier Meter Länge und wiegt gute 400 kg. Es passt definitiv nicht in ein Auto, auch nicht in ein SUV.

Ein Totem-Pfahl
Ein Totem-Pfahl

Entgegen Lucys Einschätzung kann das Holz übrigens auch Spritzwasser vertragen. Ihr Wert: Schöne Erinnerungen an wunderbare Erlebnisse einer längst vergangenen Südamerikareise.

  • Stakeholder lassen manchmal wesentliche Dinge ungesagt - nach dem Motto „Das ist doch klar.“

Wochenende – Variante 3

Lucy hat sowohl Chemie wie auch Physik studiert, anschließend in Stanford summa cum laude als Jahrgangsbeste in Materialwissenschaften promoviert. Onkel Theo ist Professor für Werkstoffkunde und Festigkeitslehre, und leitet eines der in Europa führenden Institute für diese Themen. Lucy hat einen neuartigen, auf nachwachsenden Rohstoffen basierenden Kunststoff entwickelt, der die Flexibilität von Blechen mit der Festigkeit von Verbund-Kunststoffen kombiniert. Dieses Material könnte im Karosserie- und Rahmenbau sowohl für Automobile, Bahnen, Flugzeugen und auch Fahrrädern eine Revolution auslösen, weil es sich leicht verarbeiten und mit extrem geringem Energie- und Ressourcenaufwand gewinnen lässt.

Leider ist einer der Grundstoffe dieses Wundermaterials hochgradig wasserempfindlich – schon wenige Moleküle lösen darin eine destruktive Reaktion aus.

An diesem Stoff haben sowohl konkurrierende Unternehmen wie auch Gangstersyndikate massives Interesse. Die schrecken vor Industriespionage und möglicherweise Gewaltanwendung nicht zurück, um an die Rezeptur und Formel zur Herstellung zu kommen.

Für dieses Paket ist weder IP-68 noch ein kleine Kolonne aus SUVs das angemessene Transportmedium, und vermutlich hätte eine echte Tante Lucy Dich ohnehin nicht diesem Risiko ausgesetzt.

Wenn ich eine Stunde habe, um ein Problem zu lösen, dann beschäftige ich mich 55 Minuten mit dem Problem und 5 Minuten mit der Lösung.

Albert Einstein
Ein Portrait von Albert Einstein als Mural auf einer Häuserwand
Ein Portrait von Albert Einstein als Mural auf einer Häuserwand

Fazit

Manchmal sind funktionale Anforderungen recht einfach zu erreichen („mit dem Fahrrad ein Paket von Lucy zu Theo bringen“). Zusätzliche Qualitätsanforderungen („kein Wasser“, „wertvoll“) erschweren eine angemessen Lösung. Einfache ad-hoc Ansätze können gut funktionieren, dazu müssen Entwicklungsteams aber einen Überblick der gesamten Anforderungen haben:

Für die angemessene Gestaltung ihrer Lösungen („Architektur und Implementierung“) solltest Du ein möglichst konkretes, operationalisiertes Verständnis des Problems besitzen oder erarbeiten. Kläre das mit Deinen Stakeholdern, beziehungsweise mach' Deine eigenen Annahmen über angemessene Qualitätsanforderungen explizit.

In diesem Sinne – mögen Deine IT-Projekte auf soliden und konkreten Anforderungen basieren!

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