Wer sich mit der Barrierefreiheit bzw. Accessibility von Websites und mobilen Anwendungen beschäftigt, stößt früher oder später auf Mythen, die sich in diesem Bereich hartnäckig halten und eine weitere Verbreitung barrierefreier Designs erschweren. Bestehende Mythen verhindern aber nicht nur die Umsetzung von Standards für barrierefreies Webdesign, sie liefern Unternehmen auch vermeintlich einfache Argumente, um sich erst gar nicht mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigen zu müssen. Wir greifen fünf dieser häufig verbreiteten Mythen auf und klären auf, warum sie nicht zutreffen.
Mythos: Accessibility ist zu kostspielig und der direkte Return on Investment ist nicht zu messen
Es stimmt, dass Accessibility zunächst Kosten verursacht. Entsprechendes Know-how muss aufgebaut werden, Mitarbeitende müssen geschult werden, bestehende Inhalte müssen überarbeitet werden, neue Inhalte müssen gegebenenfalls umfangreicher angeboten werden, Untertitel und Alternativtexte müssen erstellt werden, Accessibility-Tests müssen selbst durchgeführt oder beauftragt werden, Übersetzungen in leichte Sprache und in Gebärdensprache müssen erstellt werden, Kampagnen müssen geplant und durchgeführt werden. Die hierfür anfallende Kosten können abschreckend wirken. Insbesondere die zunächst höheren Entwicklungskosten zahlen sich aber schnell wieder aus. So wird durch eine Gestaltung unter Berücksichtigung der Accessibility ein deutlich größerer Markt erreicht, der neben Nutzenden mit Beeinträchtigungen auch ältere Nutzer sowie Nutzerinnen mit Leseschwäche oder unterschiedlichen Endgeräten und Bildschirmgrößen umfasst. Weiterhin werden durch die Einhaltung von Accessibility-Standards die Kosten für die Pflege einer Website oder einer mobilen Anwendung gesenkt und die Usability generell für alle Nutzenden gesteigert.
Ein Marken-Image kann durch Accessibility nachhaltig aufgebaut und gestärkt werden, da ein Unternehmen damit verdeutlicht, dass ihm seine Nutzenden ohne Einschränkung wichtig sind und dass es soziale und ethische Verantwortung übernimmt.
Accessibility führt außerdem zu einer höheren Zugänglichkeit und Wahrnehmbarkeit der eigenen Angebote. Die bessere Auffindbarkeit durch Suchmaschinen und die größere Anzahl potenzieller Nutzer:innen sorgt für steigende Besucherzahlen und bietet schließlich ein höheres Potenzial für Konversionen von Interessenten in Kunden:innen.
Die britische Supermarktkette Tesco konnte beispielsweise zeigen, dass Kosten von 35.000 GBP für die Entwicklung einer Website mit hinreichender Accessibility zu einem zusätzlichen Jahreseinkommen von 13 Mio. GBP führten.
Entwicklungskosten sind vor allem dann hoch, wenn wie so oft die Accessibility am Ende der Entwicklung erzielt und geprüft werden soll. Ähnlich wie bei der Usability oder der Erfüllung von Anforderungen im Allgemeinen gilt hier: je später die Entwicklung in diesem Bereich angegangen wird, je später also die Anforderung umgesetzt wird, desto kostspieliger ist es. Bugs, die früh erkannt werden, weil eine entsprechende Prüfung entwicklungsbegleitend und somit früh im Entwicklungsprozess stattfindet, fallen kaum ins Gewicht, erzeugen kaum höhere Kosten, weil es sich oft um Einzeiler handelt.
Solche Einzeiler wachsen aber im Verlauf der Entwicklung zu unbeherrschbaren Monstern an, wenn sie nicht frühzeitig erkannt und behoben werden.
Ihre Behebung sorgt nicht nur für niedrig gehaltene Kosten, sie kann sogar das Ergebnis insgesamt positiv beeinflussen: Wenn ein Accessibility-Bug frühzeitig behoben wird, kann die folgende Arbeit an der Website oder der Anwendung darauf basieren, Entscheidungen können getroffen werden, die zu einem Produkt mit hoher Accessibility führen. Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung von Layout-Tabellen. Hierbei handelt es sich um einen Accessibility-Bug, der für die Entwicklung einer Website aber als nicht relevant angesehen werden kann. Wenn erst kurz vor dem Release der Website festgestellt wird, dass für die Erzeugung von Accessibility Layout-Tabellen nicht verwendet werden sollten, kostet die Umgestaltung der Website viel Zeit und Geld. Eine frühzeitige Entscheidung, Spalten nicht durch eine Layout-Tabelle sondern per CSS zu erzeugen, erfordert keinen höheren Aufwand, sondern kann sogar Kosten und Zeit einsparen, weil durch Layout-Tabellen erzeugte Formatierungsschwierigkeiten vermieden werden.
Mythos: Accessibility unterstützt nur eine kleine Gruppe von Nutzenden
In Deutschland ergänzt die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) das „Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen“ (BGG). Zum einen wird mit dieser Formulierung suggeriert, dass Accessibility ausschließlich „Menschen mit Behinderungen“ dient, zum anderen nehmen viele Personen an, dass die Gruppe der Menschen mit Behinderungen klein sei, zu klein, um digitale Produkte so zu entwickeln, dass Menschen mit Behinderungen barrierefrei damit interagieren können.
Tatsächlich aber gibt es in Deutschland mindestens 7,8 Mio. schwerbehinderte Menschen (Statistisches Bundesamt, Pressemeldung vom 19. Juli 2024). Die Dunkelziffer ist hoch, da es sich bei den Angaben um die Anzahl ausgestellter Behindertenausweise mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 handelt; beeinträchtigte Menschen ohne Behindertenausweis – beispielsweise mit altersbedingten Beeinträchtigungen – werden nicht erfasst. Darüber hinaus treten die weitaus meisten Beeinträchtigungen erst im Alter durch Krankheiten, Unfälle und das normale Altern auf (96 %) (Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE), Ursachen für Behinderung. Global betrachtet, steigt die Zahl der Menschen mit Behinderungen auf ca. 1 Mrd. Inklusive der Menschen im Alter von 65 Jahren und mehr sind es ca. 2,3 Mrd. Menschen, die von Accessibility profitieren (Web Accessibility Initiative (WAI)). Aufgrund des weltweiten demographischen Wandels ist zudem mit einer stetig wachsenden Zahl beeinträchtigter Menschen zu rechnen.
Des Weiteren treten Beeinträchtigungen nicht nur bei Menschen mit Behinderungen auf. Auch temporär eingeschränkte Nutzer:innen werden durch Accessibility unterstützt. Denken Sie beispielsweise an Menschen mit einem gebrochenen Handgelenk, Menschen, die ein Kind auf dem Arm tragen, während sie ein Smartphone bedienen und Nutzende eines Interaktionsgeräts, dessen Display, Tastatur, Lautsprecher, etc. nicht mehr einwandfrei funktioniert. Neben derartig temporär eingeschränkten Nutzenden unterstützt Accessibility auch situativ eingeschränkte Nutzer:innen wie solche, die an Müdigkeit oder Stress leiden, im Freien an einem Notebook arbeiten möchten, während die Sonne auf den Bildschirm scheint, in lauten Umgebungen oder in größeren Menschengruppen unterwegs sind. Accessibility unterstützt eine deutlich größere Nutzergruppe als viele Menschen denken – nicht zuletzt besteht für jeden einzelnen das Risiko, im Alter selbst zu der Gruppe der Nutznießer zu gehören.
Mythos: Accessibility verhindert ein schickes und modernes Design
Accessibility beschränkt die Gestaltung einer Website oder einer mobilen Anwendung kaum. Techniken wie die Trennung von Inhalt und Layout oder die Verwendung von Alternativtexten und semantischem HTML erlauben es, auch modern gestaltete Websites und Anwendungen barrierefrei anzubieten. Auf gut lesbare Schriftarten und Schriftgrößen sowie auf hohe Farbkontraste zwischen Vordergrund und Hintergrund muss geachtet werden. Diese Anforderungen kommen aber allen Nutzenden zu Gute und sollten ohnehin eingehalten werden – unabhängig von Accessibility.
Bei der Verwendung interaktiver multimedialer Inhalte muss darauf geachtet werden, dass darin enthaltene Informationen auch anderweitig wahrgenommen werden können. Für alle Inhalte gilt: Sie müssen über mindestens zwei Sinne wahrgenommen werden können.
Daraus ergeben sich beispielsweise die Anforderungen, Audiodeskriptionen von visuellen Inhalten und textuelle Beschreibungen von auditiven Inhalten anzubieten. Für eine sinnvolle Strukturierung der Website oder Anwendung ist es neben der Auszeichnung von Überschriften auch wichtig, keine rein grafischen Texte oder interaktive Inhalte wie Schaltflächen zu nutzen. Diese können nicht maschinell ausgelesen und damit auch nicht von Web-Crawlern und assistierenden Technologien wie Screenreadern wahrgenommen und interpretiert werden.
Mythos: Accessibility kann leicht durch die Bereitstellung einer Textversion erreicht werden
Eine alternative Textversion einer Website stellt keine barrierefreie Version der Website dar und befreit Webdesigner auch nicht von der Pflicht zur Einhaltung von Webstandards und der Umsetzung von Richtlinien. Ganz im Gegenteil: Eine parallel bereitgestellte Textversion erhöht den Aufwand für die Pflege der Website. So müssen die Inhalte der eigentlichen Website auch in der Textversion nachgezogen werden. Dabei muss gewährleistet werden, dass in der reinen Textversion die Informationen tatsächlich vollständig vorhanden sind, da über die eigentliche Website Informationen z.B. durch Grafiken oder Videos vermittelt werden. Die Qualität der Informationen muss dadurch vielleicht oftmals höher sein als auf der eigentlichen Website. Dieser Umstand kann letztendlich zu höherem Arbeitsaufwand und somit zu höheren Kosten führen als eine barrierefreie Umgestaltung der eigentlichen Website.
Eine reine Textversion muss außerdem ebenso gut strukturiert sein wie die eigentliche Website. Im Zweifel ist eine gute Struktur der Textversion sogar wichtiger als eine gute Struktur der eigentlichen Website. Es ist davon auszugehen, dass sich die Struktur der Textversion von der Struktur der eigentlichen Website unterscheidet. Inhalte müssen für beide Versionen unterschiedlich aufbereitet werden. Dadurch entsteht ein mindestens doppelter Aufwand, der doppelte Kosten verursacht. Mindestens, da die Textversion auch möglichst attraktiv gestaltet sein sollte, was ohne den Einsatz anderer Medien sehr schwierig ist.
Denn Textversionen unterstützen vor allem blinde Nutzende und taube Nutzende. Nutzer:innen mit anderen Beeinträchtigungen meiden die Textversion eher, da sie für sie unattraktiv oder einfach unbenutzbar ist. Nutzende mit kognitiven Beeinträchtigungen wie einer Leseschwäche müssen aber dennoch unterstützt werden. Die Website muss also auch bei einer vorliegenden Textversion barrierefrei gestaltet werden. Die zusätzliche Erstellung einer Textversion verursacht also nur einen überflüssigen Mehraufwand.
Außerdem sollte allein aus Gründen der Suchmaschinenoptimierung die eigentliche Website bereits Alternativtexte für Grafiken, Untertitel für Videos und Transkripte von Audioinhalten enthalten.
Wenn die Website gut strukturiert ist und Alternativtexte, Transkripte und Untertitel angeboten werden, besteht für die Bereitstellung einer Textversion kein Grund. Werden sie nicht angeboten, müssen sie für die Textversion erstellt werden. Dieser Aufwand kann besser direkt in die eigentliche Website gesteckt werden.
Der wichtigste Aspekt gegen eine alternative Textversion ist allerdings: Die Web Content Accessibility Guidelines, auf welche die BITV verweist, definieren, dass eine Website nur dann barrierefrei ist, wenn sie alle Erfolgskriterien einer der drei Konformitätsstufen A, AA oder AAA erfüllt oder eine Alternativversion bereitstellt, die alle Erfolgskriterien der jeweiligen Stufe erfüllt. Eine Textversion erfüllt diese Bedingungen nicht, da sie Inhalte nicht barrierefrei anbietet, sondern Inhalte einfach ersetzt oder entfernt. Sämtliche Erfolgskriterien einer Konformitätsstufe müssen in der Alternativversion erfüllt werden, eine alternative Webseite muss also auch sorgfältig erstellt und gepflegt werden. Ohnehin definiert die BITV bzw. die WCAG nicht, dass eine komplette Website durch eine Alternativversion barrierefrei gestaltet werden kann, es geht um einzelne Elemente einer Webseite, die aus technischen oder rechtlichen Gründen (noch) nicht barrierefrei gestaltet werden können oder dürfen. Dabei handelt es sich beispielsweise um grafische PDF-Dokumente, für die auf einer Alternativseite eine textuelle Alternative bereitgestellt werden darf, ohne aber die übrigen Elemente der Webseite zu verändern. Informationen und Funktionen dürfen in der Alternativversion nicht abhandenkommen oder eingeschränkt werden. Auch Inhalte, die per Adobe Flash oder HTML Canvas vermittelt werden, dürfen in einer Alternativversion barrierefrei angeboten werden. Die nicht-barrierefreien Darstellungen beispielsweise von Printmedien, historischen Dokumenten, Werbefilmen, Vertragsunterlagen und Landkarten können auf der Website weiterhin gezeigt werden.
Mythos: Automatische Tests auf Accessibility sind ausreichend
Accessibility per Klick testen zu lassen ist verlockend, spart es doch Zeit und Aufwand. Manuelle Tests können automatische Accessibility Test-Tools allerdings nicht ersetzen. Solche Tools prüfen das Vorkommen bestimmter Elemente wie Auszeichnungen von Überschriften oder Alternativtexten. Ob die dadurch erzeugte Struktur oder die Beschreibung des Inhalts sinnvoll sind, können Tools aber nicht erkennen. Auch eine Tastaturbedienbarkeit kann von Tools nicht bestimmt werden. Dynamische Inhalte sowie mehrstufige Prozesse können von Tools ebenso wenig geprüft werden. Entwickelnde können mit dem Einsatz solcher Tools allerdings prüfen, ob noch grobe Accessibility-Fehler auf Code-Ebene bestehen und die häufigsten Mängel bezüglich der Accessibility identifizieren: fehlende Alternativtexte, fehlende Labels, zu geringe Kontraste, übersprungene Hierarchie-Ebenen von Überschriften.
Eine Studie der britischen Regierung konnte zeigen, dass automatische Accessibility Test-Tools im Durchschnitt aber lediglich 30 % der vorhandenen Barrieren identifizieren können.
Aufgrund der großen Unterschiede innerhalb der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Nutzenden – mit oder ohne Beeinträchtigungen – kann ein manueller Test auf Barrierefreiheit nicht simuliert werden. Nur ein manueller Test mit unterschiedlichen Nutzer:innen kann aufzeigen, wie Inhalte tatsächlich wahrgenommen werden, wie Nutzende mit Angeboten interagieren und welche Hilfsmittel in welchen Umgebungen verwendet werden.