- Teil 1: Monokausalität: Warum wir einfache Erklärungen lieben
- Teil 2: Survivorship Bias (dieser Artikel)
Was bedeutet “Survivorship Bias”?
Ein Beispiel, das viele kennen: man hört hier und da von erfolgreichen Menschen, die ihr Studium abgebrochen haben und trotzdem an der Spitze angekommen sind. Bill Gates, Oprah Winfrey oder auch Steve Jobs. Daraus ließe sich der Schluss ziehen: „Wenn ich das Studium abbreche, werde ich vielleicht der nächste Bill Gates.“ Oder: „Es kann ja wohl nicht so schlimm sein, das Studium abzubrechen, immerhin hat Oprah Winfrey trotzdem Karriere gemacht“. Klingt so weit gut und ist auch sachlich richtig. Doch was sich hier als verlockender Gedanke darstellt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Survivorship Bias – eine kognitive Verzerrung, zugunsten der „Überlebenden“. Dieser bedeutet, dass wir Aussichten auf Erfolg systematisch überschätzen, weil Erfolge größere Sichtbarkeit erzeugen als Misserfolge.
Der Grund dafür? Die Geschichten derjenigen, der Abertausenden anderen Studienabbrecher, die es nicht geschafft haben, gehen in der Flut der Erfolgserzählungen unter. In den Medien und im Gespräch mit anderen sehen wir fast nur die „Survivors“ – diejenigen, die es geschafft haben. Die anderen, deren Entscheidungen zum Scheitern führten, bleiben unsichtbar. Fokussieren wir uns in der Wahrnehmung auf Oprah Winfrey, Bill Gates und Steve Jobs, dann gewinnen wir den Eindruck, dass es sich sogar lohnt, das Studium abzubrechen.
Diese Erfolgsgeschichten sind inspirierend, ändern aber nicht die Realität für die meisten Menschen: betrachten wir die Statistik und blenden wir die Verzerrung durch einseitige Betrachtung aus, zeigt sich: Menschen mit einem abgeschlossenen Studium verdienen im Durchschnitt mehr Geld als jene ohne.
Das Thema ist nicht nur für potenzielle Nachfolger von Bill Gates interessant, sondern auch für Menschen, die in IT-Projekten arbeiten. Hier spielen in der Regel Daten eine große Rolle. Sei es bei der Entwicklung von Software, der Optimierung von Systemen oder der Analyse von Nutzerverhalten. Der Survivorship Bias tritt auf, wenn Entscheidungen oder Schlussfolgerungen nur auf den verfügbaren („überlebenden“) Daten basieren und dabei die nicht sichtbaren Daten ignoriert werden. Das kann zu falschen Annahmen oder ineffizienten Strategien führen.
Wie sich die einseitige Wahrnehmung in solchen Projekten konkret auswirkt, schauen wir uns später genauer an. Zunächst werfen wir aber einen Blick auf die Ursprünge des Begriffs und einige seiner prominentesten Beispiele.
Ein paar Beispiele
Der Begriff „Survivorship Bias“ geht auf die Arbeit von US-Navy-Ingenieuren im Zweiten Weltkrieg zurück. Diese untersuchten die Flugzeuge, die aus dem Kriegseinsatz zurückkehrten daraufhin, an welchen Stellen die Panzerung verstärkt werden sollte, damit die Absturzwahrscheinlichkeit verringert wird. Dazu sollte ein statistisches Verfahren entwickelt werden, um zu berechnen, welche Treffer eher zu einem Absturz der Maschine führen würden. Dabei konzentrierten sie sich auf die Stellen in der Verkleidung, die Einschusslöcher aufwiesen und verstärkten diese systematisch. Das Problem war das Fehlen der kritischen Daten, nämlich derjenigen über Treffer an Flugzeugen, die nicht aus dem Einsatz zurückkehrten. Die wirklich relevanten Treffer, die die Flieger abstürzen ließen, wurden in der Untersuchung also nicht berücksichtigt.
Ein weiterer Bereich, bei dem der Survivorship Bias eine wichtige Rolle spielt, ist die Medizin. Manche Patienten, bei denen herkömmliche Behandlungsmethoden nicht helfen, probieren neue, experimentelle Therapien aus. Um eine experimentelle Therapie zu testen, müssen die Patienten lange genug überleben, um diese Therapie überhaupt zu bekommen. Patienten, die früh an ihrer Krankheit sterben, werden also gar nicht in die Untersuchung einbezogen. Der Survivorship Bias führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Therapieergebnisse: Analysiert werden nur die Daten der Patienten, die die Therapie lange genug erhalten haben. Patienten, die früh verstorben sind, bleiben unberücksichtigt. Das lässt die Therapie effektiver erscheinen, als sie tatsächlich ist, da keine vollständige Datengrundlage vorliegt. Zudem wird nicht unterschieden, ob Patienten ohne die Therapie ebenso lange überlebt hätten oder tatsächlich von der Behandlung profitiert haben. Diese Lücke erschwert es, den tatsächlichen Nutzen der experimentellen Therapie objektiv zu bewerten.
Auch in der Finanzwelt kommt diese Verzerrung zum Tragen: Wenn Anleger die durchschnittliche Rendite von Investmentfonds bewerten, berücksichtigen sie oft nur die Fonds, die noch aktiv sind. Fonds, die schlechte Leistungen erbrachten und daher geschlossen oder mit anderen Fonds fusioniert wurden, werden aus den Statistiken entfernt. Angenommen, im Jahr 2000 starteten 100 Fonds. Bis heute existieren nur noch 50 davon, die anderen 50 sind wegen schlechter Entwicklung geschlossen worden. Die Renditen der überlebenden 50 Fonds sind gut, also wird ihr durchschnittliche Rendite veröffentlicht. Anlegerinnen sehen diese Zahlen und gehen davon aus, dass Fonds eine sichere Anlage sind – obwohl die Hälfte der ursprünglichen Fonds gescheitert ist. Der Survivorship Bias führt also zu übermäßigem Optimismus bezüglich der Investitionen auf dem Finanzmarkt.
Survivorship Bias in der IT
In IT-Projekten sind (wie bereits weiter oben kurz erwähnt) Daten der Schlüssel zu fundierten Entscheidungen. Doch häufig basieren diese Entscheidungen auf den verfügbaren, sichtbaren Daten – den „Überlebenden“ – während andere, weniger offensichtliche Informationen übersehen werden. Diese Lücken führen oft zu fehlerhaften Annahmen und suboptimalen Strategien, die das volle Potenzial eines Projekts nicht ausschöpfen. Ich versuche, es an einem Beispiel zu verdeutlichen:
Ein Entwicklungsteam hat eine App entworfen und erfolgreich auf den Markt gebracht. Die App wird aktiv von einer Nutzerschaft verwendet, was den Erfolg des Projekts zunächst bestätigt. Nun steht das Team vor der nächsten Herausforderung: Die App soll optimiert und weiterentwickelt werden, um die Nutzererfahrung zu verbessern und neue Zielgruppen zu erreichen. Doch bei der Analyse der Daten und der Priorisierung von Verbesserungen lauert der Survivorship Bias auf mehreren Ebenen:
User-Feedback: Feedback gibt es nur von den Usern, die das Produkt weiterhin verwenden. Nutzerinnen, die mit der App unzufrieden waren oder sie nicht intuitiv fanden, sind vielleicht längst abgesprungen und geben somit kein Feedback mehr. Als Folge optimiert das Team die App basierend auf den Wünschen der bestehenden Nutzenden und übersieht mögliche Verbesserungen, die ehemalige User gebraucht hätten, um dabei zu bleiben. Das kann dazu führen, dass die App weiterentwickelt wird, ohne neue Nutzergruppen zu erreichen.
Nutzungsdaten: Die Nutzungsanalysen des Produkts zeigen gegebenenfalls nur das Verhalten derjenigen, die die App regelmäßig nutzen. User, die die App nur einmal geöffnet haben und dann nie wieder, fehlen in den Daten. Deshalb erweckt es den Anschein, dass bestimmte Funktionen von allen gut angenommen werden, obwohl einige Nutzer aufgrund von Problemen bei der Erstnutzung abspringen. Dadurch werden potenzielle Schwächen im „Onboarding-Prozess“, in der Benutzerführung oder im ersten Eindruck der App übersehen.
Neue Features: Das Team entwickelt neue Features oder verbessert bestehende Funktionen basierend auf den Bedürfnissen der aktiven Nutzer. Die Priorisierung richtet sich stark nach den Bedürfnissen der “Überlebenden”, also aktiven Nutzer. Features oder Änderungen, die neue Nutzergruppen ansprechen könnten, werden möglicherweise nicht berücksichtigt.
Marktreichweite: Der Erfolg des Produkts wird basierend auf den aktuellen Nutzerzahlen und ihrer Zufriedenheit bewertet. Folge dieses verzerrten Bildes: Es entsteht der Eindruck, das Produkt deckt den Markt gut ab, obwohl es Nutzergruppen gibt, die deine App ausprobieren, aber nicht nutzen, weil sie z. B. nicht intuitiv genug oder zu technisch ist.
Das Beispiel macht deutlich: der Survivorship Bias kann zu gefährlichen Fehleinschätzungen führen. Die häufig gehörte Aussage „Unser Kunde macht das schon immer so – wir kennen unseren Kunden“ ist in diesem Zusammenhang ein deutliches Alarmsignal. Sie weist darauf hin, wie selektive Wahrnehmung potenzielle Lücken in der Datengrundlage ignoriert und die tatsächlichen Bedürfnisse, Erwartungen oder Probleme unberücksichtigt lässt.
Gründe für den Bias
Survivorship Bias beeinflusst, wie wir Informationen auswählen und verarbeiten. Diese kognitive Verzerrung tritt auf, weil wir Menschen dazu neigen, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen – unser Gehirn bevorzugt die schnell verfügbare, leicht zugängliche Information. Dabei spielt die selektive Aufmerksamkeit eine große Rolle: Erfolgreiche Ergebnisse sind sichtbarer, bleiben im Gedächtnis und werden oft gefeiert, während weniger sichtbare Misserfolge schlicht übersehen werden. Auch die Verfügbarkeitsheuristik verstärkt den Effekt: Informationen, die uns spontan einfallen oder präsent sind, haben einen stärkeren Einfluss auf unsere Entscheidungen. Das führt dazu, dass wir Erfolge überbewerten und Misserfolge ignorieren. Hinzu kommen emotionale Aspekte: Erfolgsgeschichten inspirieren, rufen positive Gefühle hervor und bleiben dadurch besser haften, was unseren Blick auf die Realität zusätzlich verzerren kann. Gleichzeitig suchen wir oft gezielt nach Bestätigungen für unsere bestehenden Überzeugungen, ein Phänomen, das als Bestätigungsfehler bekannt ist. Dabei übersehen oder ignorieren wir Informationen, die unseren Annahmen widersprechen. Dies alles führt dazu, dass unser Gehirn Urteile oft auf der Basis von Daten fällt, die nicht repräsentativ, sondern lediglich leicht verfügbar sind. Das Ergebnis: eine einseitige Sicht, die den Blick auf das Gesamtbild verstellt.
Mittel gegen den Bias
Wer bis hierher gelesen hat, hat bereits das wichtigste Gegenmittel: das Bewusstsein, dass es diesen Bias gibt. Denn nur wer sich über die eigenen Schwächen im Denken im Klaren ist, kann anfangen, Entscheidungen bewusster zu hinterfragen.
Weiterhin ist es wichtig, die vollständige Datenbasis einzubeziehen. In meinem Beispiel aus dem IT-Projekt wird es deutlich: Wenn die abgesprungenen User nicht in die Bewertung einfließen, entsteht eine Verzerrung, die sich negativ auf die Weiterentwicklung auswirken kann. Man könnte damit anfangen, systematisch Feedback von allen Nutzerinnen einzuholen oder A/B-Tests mit neuen Usern durchzuführen. Es könnte auch ein Fokus daraufgelegt werden, sich auf die Onboarding-Phase zu konzentrieren und dabei auch zu beachten, wie viele Nutzende abspringen, bevor sie wichtige Features nutzen können. Auch interdisziplinäre Teams können ein guter Ansatz sein, dem Bias ein Schnippchen zu schlagen. Denn damit kommen unterschiedliche Sichtweisen ins Team, die helfen, dass keine Informationen verloren gehen oder übersehen werden.
Auch im medizinischen (und generell wissenschaftlichen) Betrieb ist eine möglichst umfassende Datenbasis entscheidend. Methoden wie unabhängige Kontrollgruppen oder Längsschnittstudien können dabei helfen, ein vollständigeres Bild zu erhalten. Eine detaillierte Betrachtung dieser Ansätze würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Erfolgsbeispiele motivieren und inspirieren uns. Es lohnt sich, auch gescheiterte Versuche oder Personen zu analysieren, die aufgegeben haben. Dies hilft, ein realistisches Bild zu entwickeln und klare Erwartungen zu setzen.
Ein gesunder Realismus kann nicht schaden. Große Visionen sind wertvoll, doch kleine, erreichbare Ziele sorgen oft für mehr Zufriedenheit. Gleichzeitig ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass sich Einsatz in den meisten Fällen auszahlt – auch wenn die Chancen, der nächste Bill Gates zu werden, eher gering sind.
Fazit: Der Wert des Unsichtbaren
Der Survivorship Bias beschreibt die Tendenz, sich auf sichtbare, „überlebende“ Daten zu konzentrieren und dabei unsichtbare, verlorene Informationen auszublenden. Diese Denkfalle führt häufig zu Entscheidungen auf unvollständiger Grundlage – mit suboptimalen Ergebnissen. Wichtige Faktoren, die zu Schwachstellen oder Problemen geführt haben, bleiben unbeachtet. Um diese selektive Wahrnehmung zu überwinden, ist es entscheidend, die unsichtbaren Informationen aktiv zu suchen und einzubeziehen. In der IT bedeutet dies, Feedback von abgesprungenen Nutzergruppen zu analysieren oder früh verlorene Nutzungsdaten zu berücksichtigen. Das kann zu einem ausgewogeneren Produkt führen, das langfristig eine breitere Zielgruppe erreicht. Ähnliche Ansätze sind auch in anderen Bereichen wie der Medizin oder der Finanzwelt relevant: etwa durch Längsschnittstudien oder die Analyse geschlossener Fonds. Das Bewusstsein für diese kognitive Verzerrung ist der erste Schritt, um fundiertere und nachhaltigere Strategien zu entwickeln. Außerdem schadet ein gewisser Realismus nicht, indem man kritisch auf Erfolgsmuster schaut und den Mut hat, über das Offensichtliche hinauszublicken. Denn nur wer auch die unsichtbaren Daten berücksichtigt, kann blinde Flecken aufdecken, Schwachstellen beheben und bessere Entscheidungen treffen – in der IT, der Wissenschaft und darüber hinaus.