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Soziale Bewährtheit – Die Macht der Herde

„Was die meisten tun, sagen oder denken, kann doch nicht falsch sein, oder?“ – Ein Gedanke, der tief in uns verankert ist. Das psychologische Prinzip der sozialen Bewährtheit beschreibt genau dieses Verhalten: Wir orientieren uns an der Masse, um Entscheidungen zu treffen. Ob der Bestseller im Buchladen, die Hautcreme mit 98 % zufriedenen Kundinnen oder das Video mit den meisten Likes auf YouTube – Zustimmung vieler gilt als Qualitätssiegel. Dieses Prinzip macht evolutionär Sinn: Es spart kognitive Ressourcen und hilft, im Alltag schnelle Entscheidungen zu treffen. Zudem kann die Orientierung an der Mehrheit dazu führen, das (Über)Leben der Gruppe zu verbessern - wenn auch nicht immer der einzelnen Mitglieder. Doch soziale Bewährtheit kann täuschen und sogar manipuliert werden – besonders in komplexen Entscheidungsprozessen. Auch in IT-Organisationen beeinflusst soziale Bewährtheit Entscheidungen – oft unbewusst. Technologien, Frameworks oder Architekturmuster, die „alle nutzen“ oder „sehr beliebt” sind, erscheinen automatisch als die bessere Wahl. Ob Microservices, Kubernetes oder bestimmte Coding-Standards: Die Popularität kann eine trügerische Sicherheit vermitteln. Doch was im Trend liegt, ist nicht zwangsläufig die beste Lösung für den eigenen Kontext.

Besonders brisant ist dabei: Wir lassen uns nicht nur von anderen beeinflussen – wir sind uns dessen oft gar nicht bewusst. Studien zeigen, dass Menschen die Frage, ob ihr Verhalten durch andere beeinflusst wird, meist vehement verneinen – obwohl der Effekt nachweislich stark ist. Das macht soziale Bewährtheit zu einer unsichtbaren, aber mächtigen Kraft, die nicht nur unseren Alltag, sondern auch wichtige Entscheidungen in Unternehmen und IT-Projekten lenkt.

Was steckt dahinter?

Wir Menschen sind soziale Wesen. Das heißt, dass uns das Verhalten anderer oft als Orientierung dient, um unser eigenes Handeln zu gestalten. Ganz besonders in unsicheren oder mehrdeutigen Situationen neigen wir dazu, die Anderen genau zu beobachten und deren Verhalten zu kopieren, da dies eine einfache Möglichkeit bietet, mit der Situation umzugehen. Diese Konsensheuristik hilft uns, die Welt zu vereinfachen: Wenn viele eine Entscheidung gut finden, nehmen wir an, dass sie richtig ist. Das ist eine Art Daumenregel, die wir anwenden, um kognitive Kapazitäten zu sparen. Selbst wenn gar nicht sofort ersichtlich ist, was „die Gruppe“ tatsächlich denkt – greifen wir auf Signale zurück, die uns eine vermeintliche Mehrheitsmeinung suggerieren.

Ein weiterer Aspekt der sozialen Bewährtheit ist die Angst, aus der Reihe zu tanzen oder Fehler zu machen. Wer sich gegen die Gruppennorm stellt, riskiert im schlechtesten Fall soziale Sanktionen – vor allem, wenn sich die Handlungsoption, die man gewählt hat, als schlecht erweist. Die Macht, die die soziale Bewährtheit auf das Handeln hat, zeigt sich auch im Bystander-Effekt: In Situationen, in denen Hilfe notwendig ist – beispielsweise, wenn jemand in einer belebten Fußgängerzone zusammenbricht, führt die Anwesenheit vieler Menschen oft dazu, dass niemand eingreift. Die anderen Nicht-Handelnden signalisieren unbewusst, dass keine akute Notlage vorliegt oder die Verantwortung auf viele Schultern verteilt ist.

Obgleich die soziale Bewährtheit in den genannten Beispielen eher schlecht wegzukommen scheint: Es ist ein allgegenwärtiges und oft hilfreiches Prinzip. Soziale Bewährtheit ermöglicht uns, im Alltag effizient zu entscheiden, ohne jede Wahl neu zu hinterfragen – sei es die Wahl der Zahnärztin, zu der viele gehen, oder eines bewährten Tools im Projekt. Doch gerade in komplexen oder kritischen Situationen kann blinde Orientierung an der Mehrheit problematisch werden. Die Herausforderung besteht darin, zu erkennen, wann der soziale Konsens tatsächlich fundiert ist – und wann er lediglich bequeme Denkmuster bedient. Dies gilt insbesondere in sozialen Medien, wo Algorithmen gezielt Inhalte verstärken, die zur bestehenden Meinung der Nutzer passen, und so eine vermeintliche Mehrheitsperspektive erzeugen können, die nicht unbedingt die Realität widerspiegelt.

Beispiele & Experimente

Viele klassische Studien aus der Sozialpsychologie beweisen, welche Macht das Prinzip der sozialen Bewährtheit hat, wenn es darum geht, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen.

Ein bekanntes Experiment zur sozialen Bewährtheit hat Solomon Asch durchgeführt. Er hat das Konformitätsverhalten seiner Proband:innen untersucht – quasi eine Folge der sozialen Bewährtheit. Den Teilnehmenden des Versuchs wurden drei unterschiedlich lange Linien gezeigt. Gefragt wurde, welche der drei rechten Linien so lang wie die linke Vergleichslinie wäre. Eigentlich eine leicht zu beantwortende Frage. Alle Proband:innen konnten sie richtig beantworten, wenn sie die Ersten waren, die antworten sollten. Die Situation änderte sich aber, wenn zwei oder drei Teilnehmer vorher eine andere Einschätzung abgaben; und zwar eine falsche. Diese zuerst abgegebenen – von der eigenen Einschätzung abweichenden – Urteile, die auch noch alle übereinstimmen, führten dazu, dass die Teilnehmenden ihre Antwort entsprechend anpassten. Sie verhielten sich konform den Urteilen der anderen Personen, die natürlich speziell instruiert waren und Urteile abgaben, die vorher abgesprochen worden waren.

Ein weiteres Beispiel: Wer schon mal in einem Hotel übernachtet hat, kennt wahrscheinlich den Badezimmer-Code: Handtücher auf dem Boden sollen bitte durch neue ersetzt werden. Handtücher über der Stange werden weiterverwendet. Dem Hotelpersonal ist die zweite Variante lieber: weniger Aufwand und dadurch weniger Kosten. Wenn die Gäste dazu bewegt werden könnten, ihre Handtücher länger zu verwendet, wäre das daher ein durchaus geldwerter Fortschritt.

Wie könnte man dazu vorgehen? Ein Hotel hat einen entsprechenden Versuch durchgeführt. Die Gäste wurden darüber informiert, dass es aus Gründen des Umweltschutzes sinnvoll wäre, Handtücher mehrfach zu verwenden. Das führte zu einer nur geringfügig erhöhten Mehrfachverwendung. Deutlich erfolgreicher war der zusätzliche – wahrheitsgemäße – Hinweis darauf, dass die überwiegende Mehrheit der Gäste ihre Handtücher mehrfach verwendete. Noch erfolgreicher war dieser Hinweis dann, wenn er für die Gäste für dieses spezifische Zimmer formuliert wurde („85 % der Gäste in diesem Raum (Nr. 303) nahmen am Umweltschutzprogramm teil und verwendeten ihr Handtuch mehr als einmal!“).

Ein Schild betont '85% Schutz der Umwelt' und fordert Gäste auf, Handtücher während des Aufenthalts wiederzuverwenden. Daneben hängt ein Handtuch mit Recycling-Symbol.
Hinweisschild im Hotelzimmer

Je näher einem die soziale Bewährtheit kommt – räumlich oder auch in Hinblick auf Ähnlichkeit –, desto wirksamer ist sie.

Das Prinzip der sozialen Bewährtheit beeinflusst nicht nur alltägliche Entscheidungen – wie die Wahl eines gut besuchten Restaurants oder das Verhalten von Hotelgästen beim Wiederverwenden von Handtüchern –, sondern zeigt auch in IT-Projekten oder Abteilungen eine starke Wirkung. Ob bei Technologieentscheidungen oder in Teamprozessen: Oft werden Entscheidungen getroffen, weil sie sich im Umfeld bewährt haben oder populär sind, ohne die spezifischen Anforderungen zu hinterfragen. Die folgenden Beispiele zeigen, wie sich soziale Bewährtheit konkret im IT-Kontext äußern kann.

Technologieentscheidung: Ein Team oder ein Architekturboard, das ganzheitlich Richtlinien vorgibt, entscheidet sich, Kubernetes zu nutzen, da es als „Branchenstandard“ gilt. Die Entscheidung basiert auf der Annahme, dass eine weitverbreitete Technologie automatisch besser geeignet sein muss als alternative Technologien, ohne den spezifischen Anwendungsfall zu analysieren.

Security: Ein Team setzt auf ein weitverbreitetes Softwareprojekt, da es aufgrund von GitHub-Stars, Forks oder Downloadzahlen als populär gilt. Dabei wird angenommen, dass Popularität auch bessere Sicherheit bedeutet. Allerdings zeigt der 2019 State of the Software Supply Chain Report, dass diese Annahme nicht stimmt: Beliebte Projekte weisen nicht automatisch bessere Sicherheitsmerkmale auf. Entscheidungen, die allein auf Popularität beruhen, können daher Sicherheitsrisiken für das Unternehmen mit sich bringen.

Meetings: Ein erfahrenes Teammitglied oder eine Führungskraft schlägt eine Lösung vor. Obwohl einige Teammitglieder Zweifel haben, entsteht durch Schweigen oder Nicken ein scheinbarer Konsens. So wird eine Entscheidung getroffen, ohne die Zweifel offen zu diskutieren.

Coding: Entwickler:innen übernehmen Best Practices aus einem anderen Projekt, wie z.B. ein bewährtes Pattern, ohne zu prüfen, ob es im aktuellen Kontext sinnvoll ist. Auch im Pair Programming oder bei Code Reviews neigen weniger erfahrene Teammitglieder dazu, die Ansichten erfahrener Kolleg:innen unkritisch zu übernehmen. Auch AI spielt in diesem Punkt eine Rolle: AI gestützte Tools wie z.B. Copilot oder ChatGPT verstärken soziale Bewährtheit, da sie vor allem auf bestehendem Wissen und Mehrheitsentscheidungen basieren.

Prozesse: Ein Team entscheidet sich für Scrum, weil es in anderen Teams erfolgreich eingesetzt wird. Es wird dabei nicht berücksichtigt, dass die Teamgröße oder das Umfeld möglicherweise besser zu einer anderen Methode passen würden.

Projektmanagement: Ein Unternehmen wählt Jira, weil es in großen Organisationen weitverbreitet ist. Dabei wird übersehen, dass die Anforderungen des Teams möglicherweise durch einfachere Tools wie Trello effizienter erfüllt werden könnten.

Architektur: Microservices werden eingeführt, weil sie als modern und innovativ gelten. Die Entscheidung orientiert sich an Trends, ohne zu bewerten, ob diese Architektur den Anforderungen und Zielen des Unternehmens gerecht wird.

Onboarding und Wissenstransfer: Neue Mitarbeitende passen sich unkritisch den Gewohnheiten ihrer Kolleg:innen an. Sie übernehmen bestehende Prozesse und Verhaltensweisen, auch wenn diese Optimierungspotenziale aufweisen.

Ob die getroffenen Entscheidungen tatsächlich zu besseren Ergebnissen führen, bleibt oft unklar. Ohne klare Kriterien oder messbare Standards, anhand deren der Erfolg bewertet werden kann, bleibt die Qualität der Wahl eine offene Frage. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, nicht nur populäre Optionen zu übernehmen, sondern Entscheidungen zu treffen, die durchdacht sind – und diese kritisch zu hinterfragen.

Risiken

Die Orientierung an sozialen Hinweisen hilft uns, schnell Entscheidungen zu treffen – allerdings verzichten wir in der Situation darauf, die verfügbaren Informationen selbst zu prüfen. Um ein Beispiel aus einem vorherigen Absatz zu wiederholen: Ein Team entscheidet sich, Kubernetes zu nutzen, da es als „Branchenstandard“ gilt, ohne es kritisch zu prüfen. Solche Abkürzungen im Denken können zu langfristigen Herausforderungen führen, etwa wenn sich später herausstellt, dass die Entscheidung nicht optimal für die spezifischen Anforderungen des Projekts war. Das kann sogar dazu führen, dass sich durch die kollektive Wahrnehmung Realitäten regelrecht verformen, denn wenn genug Menschen eine bestimmte Annahme teilen, wird sie oft zur allgemein akzeptierten Wahrheit, unabhängig davon, ob sie objektiv richtig ist. Dadurch kann Soziale Bewährtheit sogar verhindern, dass neue, potenziell effektivere Lösungen gar nicht erst in Betracht gezogen werden. Statt Innovation zu fördern, wird nur das umgesetzt, „was bisher funktioniert hat“. So gesehen kann soziale Bewährtheit Innovation und Kreativität verhindern.

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich in AI-Systemen, die durch maschinelles Lernen trainiert werden. Weil sie auf historischen Daten basieren, können sie bestehende Muster und Mehrheitsmeinungen weiter verstärken, anstatt neue, kreative Lösungen vorzuschlagen. In der Praxis bedeutet das: Wenn eine Technologie oder ein Vorgehen oft als „Best Practice“ in Trainingsdaten vorkommt, wird sie auch in AI-gestützten Empfehlungen bevorzugt – selbst wenn es bessere Alternativen gäbe. Dadurch entsteht eine Rückkopplungsschleife, in der populäre Entscheidungen immer wieder bestätigt und gefestigt werden.

Ein weiteres Risiko ist, dass dominante Meinungen – etwa von sehr erfahrenen Entwickler:innen – zu wenig hinterfragt werden. Das Team folgt der Einschätzung einer erfahrenen Person, auch wenn Unklarheiten bestehen. So können suboptimale Lösungen in den Code gelangen, weil der soziale Einfluss stärker wirkt als objektive Kriterien. Grundsätzlich spielen Hierarchien und Autoritätsgläubigkeit bei der sozialen Bewährtheit eine große Rolle.

Professionell gekleidete Frau steht vor einer Gruppe applaudierender Kollegen, präsentiert eine Folie mit 'SOCIAL PROOF' und einem Wachstumsdiagramm.
Meeting

Dass man das, was die Kollegin sagt, nicht hinterfragt, hat aber nicht zwingend etwas mit Hierarchien zu tun. Auch beim Pair/Ensemble-Programming kann es passieren, dass zwei Entwickler:innen gemeinsam programmieren und beide Zweifel an der Richtigkeit der Lösung haben. Da sie aber beide davon ausgehen, die andere Person wüsste es besser, stimmen sie der Lösung zu.

Grundsätzlich steigt das Risiko in Situationen, in denen Menschen sich unsicher sind. Dies führt dazu, dass Teammitglieder sich stärker an der Meinung der anderen orientieren, anstatt selbstständig zu bewerten. Dies kann eine Spirale unkritischer Zustimmung auslösen, bei der niemand die Verantwortung übernimmt. Solche Dynamiken bremsen Projekte aus und erhöhen das Risiko von Fehlentscheidungen.

Was wir tun können

Zunächst ist es schon äußerst hilfreich, überhaupt um das Phänomen der „sozialen Bewährtheit“ zu wissen. Allerdings ist es um unsere Reflektionsfähigkeit bei diesem Thema wohl nicht besonders gut bestellt:

Wie bereits in der Einleitung erwähnt: Obgleich es wenig Zweifel daran gibt, dass das Verhalten anderer Menschen eine mächtige Quelle des sozialen Einflusses darstellt, haben die Teilnehmenden verschiedener Studien die Frage, ob das Verhalten anderer Menschen ihr Verhalten beeinflussen würde, vehement verneint. So schreibt Goldstein in seinem Buch, dass die Fähigkeit der Menschen, die Faktoren zu benennen, die ihr Verhalten beeinflussen überraschend schwach ausgebildet ist.

Sich selbst zu beobachten und aufmerksam zu sein, wann man sich dafür entscheidet, der „Herde“ zu folgen, ist aber definitiv ein guter Schritt in die richtige Richtung.

Weiterhin ist es immer sinnvoll, die Quelle zu prüfen. Vor allem wenn man vermeintliche Fakten konsumiert („Alle Prominenten schwören auf diese eine Creme – und sie ist jetzt endlich auch für dich erhältlich!“); hier kann man lieber einmal zu viel prüfen, woher diese Information stammt.

In IT-Projekten und -Teams braucht es eine Kultur, in der kritisches Hinterfragen erlaubt und gewünscht ist. Das lässt sich nicht bestellen und nicht verordnen, aber alle sollten daran mitarbeiten, Teil einer solchen Kultur zu sein. Dazu gehört zum Beispiel, dass weniger erfahrene Teammitglieder ernst genommen und um ihre Meinung gebeten werden. Und dies steht auch keinesfalls im Widerspruch dazu, dass diese Teammitglieder an anderen Stellen noch Hilfe und Unterstützung benötigen. Erfahrene Entwickler:innen spielen oft eine zentrale Rolle bei Entscheidungen im Team. Gerade deshalb ist es wichtig, sich der eigenen Wirkung bewusst zu sein. Früh geäußerte Einschätzungen oder Bewertungen können unbeabsichtigt dazu führen, dass andere Teammitglieder ihre eigenen Gedanken weniger deutlich formulieren oder hinterfragen.

Schlussendlich: Bewährtheit kritisch nutzen

Das Prinzip der sozialen Bewährtheit kann uns helfen, Entscheidungen effizient zu treffen – gerade in alltäglichen oder wenig kritischen Situationen. In komplexen Kontexten, wie IT-Projekten, birgt es jedoch Risiken: blinde Orientierung an Trends, unkritisches Mitziehen und die Gefahr, kreative Lösungen zu übersehen. Der Schlüssel liegt darin, soziale Einflüsse bewusst zu hinterfragen und eine offene Teamkultur zu fördern, die Diskussion und Reflexion aktiv einfordert.