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Kaum hatte ich eine Aufgabe angefangen, habe ich nach kurzer Zeit schon wieder etwas anderes dazwischengeschoben – oder mich mit Mails oder diversen News-Websites abgelenkt.
News is to the mind what sugar is to the body.
Rolf DobelliAutor, Unternehmer
Und dann sind zwei Blitze nahezu gleichzeitig eingeschlagen: Ein Buch und ein Blogpost: Ich habe daraufhin mein (digitales) Leben deutlich umgestellt: Resultat innerhalb von nur zwei Wochen: Ich schaffe wieder mehr, schlafe besser und bin signifikant zufriedener. Die Kurzfassung: News-Diät und produktive Smartphone-Nutzung.
Wie meine Konzentration verloren ging…
Über Jahre habe ich ziemlich regelmäßig Content produziert, in Form von Vorträgen, Büchern, Zeitschriftenartikeln, Blogposts, Podcasts und Beiträgen zu Open-Source Projekten (um das zu quantifizieren: 30+ Bücher bzw. Buchauflagen und rund Hundert Artikel in diversen Zeitschriften innerhalb der letzten 20 Jahre – macht immerhin 1,5 Bücher und 5 Artikel pro Jahr).
In den letzten Monaten war dabei irgendwie die Luft raus, was mich persönlich sehr unzufrieden gemacht hat— Anfang 2022 veröffentlichte ich den letzten Blogpost, Ende 2021 die letzten Artikel. Neuauflage des arc42-in-Aktion Buches habe ich schon zum dritten Mal verschoben… Ich hatte zwar eine Menge Ideen, aber irgendwie habe ich die nicht zu Papier bringen können. Und leider reichen Ideen allein nicht aus – die Ideen müssen auch umgesetzt werden, strukturiert aufbereitet, nachvollziehbar aufgeschrieben. Außerdem war ich immer ein engagierter Fachbuch-Leser – und habe alle paar Wochen ein neues Buch verschlungen. Auch das fiel mir schwerer und schwerer – obwohl mich die Themen der ungelesen im Regal stehenden Schmöker total interessierten. Ich könnte das alles auf die Pandemie zurückführen, auf mein Alter (fragt nicht…) oder sonst was. Aber fingierte Ausreden sind einfach nicht mein Ding.
“Da musst Du was dran tun”, habe ich mir gedacht, und habe versucht, durch früheres Aufstehen meine Produktivität oder Kreativität zu steigern. Fehlanzeige. Abends länger aufbleiben funktioniert auch nicht. “Woran liegt’s denn?” habe ich mich gefragt und das versucht, was ich in meinem Job schon Dutzende Male (mit Erfolg!) empfohlen habe: Eine systematische Analyse der Situation, sozusagen einen Selbst-Review.
Die Selbstanalyse
Ich habe versucht, meine eigene Arbeitsweise zu analysieren. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass es mir immer schwerer fiel, mich auf einzelne Aufgaben zu konzentrieren: Kaum hatte ich eine Aufgabe angefangen, habe ich nach kurzer Zeit schon wieder etwas anderes dazwischengeschoben – bzw. mich mit Mails oder diversen News-Websites abgelenkt. Ich sitze an einem Vortrag – und checke zwischendurch mal den INNOQ-Slack. Schreibe an einer Folie weiter – und schaue kurz auf dem Smartphone, was sich bei WhatsApp oder Signal so getan hat. Und wo ich das Ding sowieso in der Hand halte, kann ich gleich noch bei Spiegel-Online ein paar Neuigkeiten lesen.
Wusstet ihr, dass deutsche Smartphone-User im Schnitt 88-mal täglich ihr Telefon entsperren und darauf schauen (Quelle: Das Experiment sind wir). Ich war einer davon. News-Websites wie Spiegel-Online oder das (inhaltlich großartige) Handelsblatt hatten mich als Dauerkunden.
Bei mir hatten diese Kontextwechsel schon suchtartige Züge. Selbst während ich Serien geschaut habe (ja, ich gebe zu, dass ich gerne mal eine oder zwei Folgen binge ), habe ich zwischendurch das Telefon oder Tablet zur Hand genommen, und kurz mal Nachrichten gecheckt. Gegen besseres Wissen habe ich auch morgens erst mal in die E-Mails geschaut, bevor ich den ersten Espresso getrunken habe. Und in meiner Inbox waren halt immer diverse Nachrichten-Zusammenfassungen (genauer: das spannende Morning-Briefing vom Handelsblatt und eine kompakte Sammlung aktueller Artikel aus Spiegel-Online).
Leider haben mir all diese Nachrichten mehr geschadet als genützt: Für meine Coaching- und Beratungsaufgaben muss ich nichts über aktuelle In- oder Auslandspolitik wissen. Für meine Trainings im Bereich Softwarearchitektur und -engineering helfen mir weder Börsen-Trends noch die Details internationaler Terrorakte. Meine Artikel und Bücher handeln von Software und Software-Engineering, und nicht von Klima- oder Wirtschaftspolitik.
Eine Selbsterkenntnis
Das ständige Wechseln zwischen (anspruchsvollen) technischen Aufgaben, den Nachrichten aus aller Welt und persönlicher Kommunikation zu privaten und beruflichen Themen hat mich, so behaupte ich, einen signifikanten Teil meiner Konzentration gekostet.
Mein Hirn kann (anscheinend) mit krassen Kontextwechseln nicht gut umgehen. Und mein Gehirn hat Ablenkungen wohl unbewusst als etwas Positives wahrgenommen – und wollte wie der Pawlowsche Hund immer mehr davon, in immer kürzeren Abständen.
Die fehlende Konzentration habe ich selbst erkannt. Meine zaghaften eigenen Versuche, mit Pomodoro-Timer und beruhigenden Klängen, sind jedoch deutlich gescheitert. Da mussten erst wirkungsvolle Abhilfemaßnahmen von außen kommen: Zwei wesentliche Quellen haben mir geholfen:
Während der Anreise zu einem Architekturworkshop saß ich in der Straßenbahn – und habe zur Abwechslung mal keine Nachrichten gelesen, sondern mich an einem Buch versucht. Seit einiger Zeit verwende ich den (Berliner) Online-Service Blinkist, um kurze Zusammenfassungen diverser Sachbücher zu lesen – primär, um für mich selbst herauszufinden, ob ich das Original dieser Bücher dann komplett lesen möchte.
Also – ich sitze in der Straßenbahn und lese einen dieser Blinks, als mich der gedankliche Blitz trifft: Ich fühlte mich von den Erklärungen Rolf Dobellis so derart ertappt, in meiner eigenen Konzentrations-Falle erwischt, dass ich spontan beschlossen habe, Ernst zu machen. Ich zitiere mal aus diesem Buch:
Doch News tun uns nicht gut: Sie vernebeln unseren Geist, verstellen uns den Blick für das wirklich Wichtige, rauben uns Zeit, machen uns depressiv und lähmen unsere Willenskraft.
Rolf DobelliAutor, Unternehmer
Lähmen meine Willenskraft, rauben mir Zeit. Das war genau mein Problem.
Noch in der Straßenbahn habe ich beschlossen, es mal eine Zeit lang mit einer strikten Abstinenz von jeglichen Nachrichten (News, nicht E-Mails) zu versuchen.
Aber damit war’s noch nicht genug: Im Zuge dieser Erkenntnis habe ich mich an einen Blogpost erinnert, den ich vor einigen Jahren mal gelesen hatte – über die produktive Konfiguration von Smartphones, der den vielversprechenden Untertitel Configure Your iPhone to Work for You, Not Against You trägt. Kurz entschlossen habe ich mir auch noch vorgenommen, mein iPhone mal für maximale Produktivität zu optimieren – und Ablenkungen zu reduzieren oder sogar zu eliminieren.
Drastisch, aber wirkungsvoll
- Eine (aktuell sehr strikte) Nachrichten-Nulldiät
- Smartphone für hohe Produktivität und minimale Ablenkung (um-)konfigurieren
- Ablenkungen auf Tablet und Computer reduzieren
Dazu kommen noch leichte Änderungen meiner täglichen Gewohnheiten: Ich habe mir vorgenommen (und seit ein paar Wochen auch geschafft), morgens nicht mehr aufs Handy zu starren, und abends ab spätestens 20h das iPhone überhaupt nicht mehr zu benutzen (Ausnahme: Den Wecker für den nächsten Morgen stellen).
Nachrichten-Diät
Noch während besagter Straßenbahnfahrt habe ich mein Abo von Spiegel-Online gekündigt und die zugehörige App von meinem iPhone gelöscht. Während der anschließenden mehrstündigen Zugfahrt dann gleich noch das Handelsblatt-Digital-Abo gekündigt, und auch deren App gelöscht – von Smartphone und iPad, damit ich erst gar nicht in Versuchung komme.
Und mir ganz fest vorgenommen, mal für eine Zeit lang wirklich keinerlei Nachrichten mehr zu lesen. Also eine Nachrichten-Nulldiät. Das ist mir zwei, drei Tage lang wirklich schwergefallen. Aber allein das war für mich eine erschreckende Erkenntnis: Ich war tatsächlich süchtig nach Nachrichten und Abwechslung… und kalter Entzug fällt bekanntlich bei jeder Art von Sucht schwer.
Die jeden Tag gewonnenen Stunden habe ich gezielt investiert: Als sozusagen vorgezogene Belohnung für meine Nachrichten-Nulldiät habe ich mir ein interessantes Fachbuch als PDF gegönnt (übrigens das berühmte “Schnelles Denken - Langsames Denken” vom großartigen Daniel Kahnemann, das ich schon immer mal auf Deutsch lesen wollte, weil das englische Original meine Sprachfertigkeiten leicht überfordert hatte). Und mich riesig darüber gefreut, ohne Ablenkung darin ordentlich vorangekommen zu sein.
Dazu habe ich meinen Browser (Firefox) angewiesen, mir auf neuen Tabs oder Fenstern keine Empfehlungen für angeblich interessante oder wichtige Themen zu präsentieren.
Smartphone umkonfigurieren
Das obige Zitat “Configure Your iPhone to Work for You, Not Against You” gibt die Zielsetzung vor: Es ist der Untertitel eines sehr langen Blogposts von Tony Stubblebine – der neben Konfigurationsvorschlägen auch noch diverse Ratschläge für mehr Aufmerksamkeit und Gesundheit gibt, meiner Meinung nach total lesenswert.
Ich fasse hier mal die für mich wichtigsten Dinge zusammen – die er in seinem Artikel mit vielen Screenshots und Erläuterungen ausführlich erläutert:
- (Fast) alle Benachrichtigungen ausschalten – sodass nicht ständig diese roten Punkte um Ihre Aufmerksamkeit buhlen oder Ihnen ein schlechtes Gewissen bereiten.
- Apps für soziale Medien bestmöglich verbergen. Facebook, Instagram, Twitter & Co wirken wie Drogen. Die gehören vom Start-/Homescreen entfernt, irgendwo ins Hinterland ihres Smartphones verschoben. Ich habe die Twitter-App gelöscht, und Instagram nur deswegen behalten, weil ich dadurch ein wenig von meinen erwachsenen Kindern mitbekomme.
- Messaging-Apps (E-Mail, WhatsApp, Signal und Co.) wandern in einen Ordner, und am besten auf den zweiten Screen dieses Ordners. Bei mir sieht’s wie folgt aus (K11n steht für Kommunikation):
Den Nicht-Stören Modus einschalten, je länger, desto besser. Mindestens mal von abends bis morgens.
Anheben des Telefons sollte es nicht entsperren. Beim iPhone heißt diese Einstellung “Anzeige & Helligkeit/Beim Anheben aktivieren” – und sollte unbedingt ausgeschaltet sein.
Das Widget für die Bildschirmzeit einschalten – so habe ich Kontrolle, womit ich meine Smartphone-Zeit verbringe… Mittlerweile mache ich mir einen Sport daraus, auf möglichst kleine Werte zu kommen.
Inhalts- und App-Beschränkungen einschalten. Ich erlaube mir nur 15 Minuten pro Tag für E-Mail und Instagram.
Swipe-Tastatur installieren, damit ich auf dem Telefon schneller Texte schreiben kannst, und nicht umständlich jeden Buchstaben klicken musst. Ich nutze dafür Microsoft Swiftkey (ja korrekt, eine Microsoft-App auf dem iPhone), andere kommen mit Google’s Gboard besser klar.
Hintergrundbilder in gedeckten Farben. Ich habe einen komplett schwarzen Home-Screen gewählt, und einen farblich reduzierten Sperrbildschirm:
Ablenkungen auf Tablet und Computer reduzieren
Beim Tablet bzw. Computer gibt’s natürlich entsprechende Einstellungen - wobei ich insbesondere die Benachrichtigungen weitestgehend reduziert habe:
Falls Sie rückfällig werden
Falls Sie noch etwas strikter mit sich selbst sein wollen – für die gängigen Desktop-Plattformen gibt es diverse Blocker, die den Zugriff auf bestimmte Websites oder Programme für bestimmte Zeiten unterbinden können – als digitale Selbstdisziplinierung. Ich habe ColdTurkey ausprobiert und fand das sehr gut. Allerdings habe ich festgestellt, dass ich auch ohne diese elektronische Fessel diszipliniert genug an meinen neuen Gewohnheiten festhalte…
Darüber hinaus…
Neben den genannten Einstellungen und der Nachrichten-Nulldiät höre ich bei intensiver Arbeit am Schreibtisch gerne Klanglandschaften für (vermeintlich) bessere Konzentration. Ich schreibe vermeintlich, weil ich diese Art akustische Untermalung gerne mag, aber nicht beweisen kann, dass sie mir irgendwie helfen. Meine Familie findet das übrigens ganz fürchterlich.
Falls Sie das ausprobieren wollen – meine beiden Lieblinge sind Endel und brain.fm. Geht sowohl auf Smartphone wie Desktop (aber bitte sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt…)
Mit Pomodoro-Timern bin ich immer noch nicht warm geworden, die nerven mehr als sie mir helfen.
Fazit
Starten Sie doch mal einen Selbstversuch – und verzichten Sie eine Zeit lang so weit wie möglich auf Nachrichten aus Sport, Politik, Wirtschaft und Technik. Fahren Sie Ihre persönliche Smartphone-Zeit mal 1–2 Wochen drastisch runter – und genießen Sie die gewonnene Zeit mit einem guten Buch, einem persönlichen Gespräch oder wagen sich an eine Aufgabe, die bisher (aus vermeintlichem Zeitmangel) liegen geblieben ist… Viel Erfolg dabei – und ich freue mich über Rückmeldungen.
Danksagung
Danke an Jochen Christ, Joachim Praetorius, Jan Seeger und Ben Wolf für eure gründlichen Reviews und die konstruktiven Kommentare.